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Calcarer Passion 1930   -   Abschrift eines Zeitungsartikels aus dem Jahre 1930

Dem Stadtanzeiger (Köln) entnehmen wir folgende Kritik über die Calcarer Passion:

Niederrheinische Passion!    Nicht nur in Oberammergau gehören Herrgottschnitzen und  Theaterspielen zusammen. Da liegt im äußersten Nordwestwinkel des Reiches ein kleines Städtchen mit großem viereckigen Marktplatz, viel zu groß – so will es erscheinen – für seine heutige Bedeutung, mit einem stolzen, alten Backsteinrathaus, an dem sich ein zierliches Treppentürmchen emporrankt, mit schönen geschweiften Giebelfronten und mit einer hohen, kühlen Kirche, die ein Schatzkästlein erlesener mittelalterlicher Kunst darstellt: Calcar am Niederrhein.

Hier malte Jan van Kalkar das Opfer des Abrahams und die Geburt Christi auf die Flügel des Hochaltares, hier zauberten die Meister Arnt und Douwermann mit dem Schnitzmesser die sieben Schmerzen und Freuden Mariä in köstlich naiver Geschwätzigkeit und frommer Inbrunst aus dem spröden Eichenholz der Altarschreine, und hier spielten die Nachkommen der alten Künstlergeschlechter draußen in einer romantisch zerklüfteten Schlucht ihre Passion, die „Calcarer Passion“.

„Niederrheinisches Oberammergau“ sagen die Calcarer. Dabei brauchten sie sich dieses Vergleiches gar nicht zu bedienen, so sehr unterscheidet sich ihr Spiel und Ihre Arbeit im Guten von jenem internationalen Passionsdorf.
Hier herrscht noch die naive voraussetzungslose Freude am Spiel, eine Primitivität des Denkens und Gestaltens, die ihre tiefsten Wurzeln im Volkhaften, in der Überlieferung hat, und von Dilettantismus ebenso weit entfernt ist wie von angelernter Theaterspielerei.
Hier gibt es keine Stars mit aufgepfropften Hoftheatermanieren, hier spielt man noch mit einer eckigen Unbeholfenheit, aus der sich dann unversehens ein Blick, eine Geste, ein Ton lösen, die wesentlicher und aufschlussreicher sind als alle schauspielerische Routine. Hier sind Menschen von starkem, sicherem Instinkt am Werke, um Menschen und Vorgänge, die ihnen von Jungend an in Wort und Bild (zumal im Bild) vertraut sind, aus ihrer Vorstellungswelt heraus zu gestalten.
Hier trifft man noch auf die simpelsten, dramaturgischen Hilfsmittel, aber die Calcarer dürfen sie anwenden, weil sich bei ihnen Menschliches und Künstlerisches durchaus deckt.  Was dem routiniertesten Regisseur am meisten zu schaffen macht, hier wird es mit selbstverständlicher Sicherheit gefühlsmäßig getroffen: die Pause, das spannungserzeugende stumme Spiel. Darum gibt es hier Episoden von so unmittelbar ergreifender Wirkung, wenn etwa Christus in der Abendmahlszene dem Verräter das Brot reicht, wenn der Herr das Kreuz auf sich nimmt oder wenn Johannes und die Frauen dem Leidenszug nach Golgatha folgen.

Noch eins kommt hinzu im Gegensatz zu Oberammergau: Das vielgeschmähte „Gemeinschaftserlebnis“, hier wird es Ereignis. Spieler und Zuschauer kommen nicht nur von gleichen Voraussetzungen her und stellen eine volkhafte und seelische Einheit dar, auch im Spiel selbst tritt der Einzeldarsteller völlig zurück hinter dem großen Sinn des Ganzen, der in den dramatisch gesteigerten Massenauftritten seine Krönung findet.

Zweimal erhält das Werk seine schönste Bestätigung durch die Landschaft. Einmal, wenn sich beim Einzug das Volk von Jerusalem  in buntem Gewimmel aus einer schmalen Bergschlucht herausentwickelt, und zum anderen Male beim Zug nach Golgatha, zu dem ein schmaler Bergpfad durch Wald und Gebüsch emporführt. Auf der höchsten Kuppe des abschließenden Berghangs ragen die drei Kreuze in den Abendhimmel. Wolkenschatten ziehen über den Abhang hin, irgendwo in den Büschen zwitschert ein letzter Vogel, und während die Abendsonne auf den leuchtenden Rüstungen der römischen Söldner spielt, denkt man an die Zeit, da schon einmal auf dieser Kuppe römische Legionäre Wacht hielten. Damals freilich echte und keine verkleideten …

Nach dem Spiel steht man in St. Nicolai vor den altmeisterlich leuchtenden Tafeln und dem Filigran der Altarschreine, vor diesen Marien, Magdalenen und Hohepriestern niederrheinischen Geblüts, kantig und herb. Und unversehens wird einem bewusst, dieses bärtige Antlitz, diese Drehung des Kopfes, diese eckige Gebärde hast du soeben dort draußen gesehen. Indem diese Menschen sich spielen, knüpfen sie an das Werk ihrer Ahnen, und nun wird einem recht eigentlich erst der Geist volksverbundener künstlerischer Überlieferung offenbar, der den niederrheinischen Handwerkern und Bauern hier im Blute zu liegen scheint. Dr.B.